Ausgabe

Socratis et Socraticorum Reliquiae, collegit, disposuit, apparatibus notisque instruxit Gabriele Giannantoni, 4 Bde., Napoli: Bibliopolis 1990.

Sammlung der antiken Zeugnisse über Sokrates und die sogenannten kleineren Sokratiker: “Es handelt sich um eine Ausgabe, die mittlerweile einen obligaten Bezugspunkt für jeden, der sich mit Sokrates und den Sokratikern beschäftigt, darstellt und zu Recht den Namen Giannantonis neben den berühmter Forscher und Autoren von philosophischen Textsammlungen stellt” (A. Ioppolo, in “Elenchos”, XXIX, S. 232).

Einführung

Es ist Absicht der vorliegenden Sammlung, zum ersten Mal den Corpus der antiken Quellen zu Sokrates und der sokratischen Bewegung zugänglich zu machen. Daher findet der Leser neben den Socraticorum reliquiae hier die erste Sammlung der antiken Quellen über Sokrates, die auf den neuesten Stand gebrachte Sammlung der Quellen über Aeschinus und Angaben zu denen anderer Hörer und Schüler des Sokrates. Der Begriff “sokratisch” wie auch der Ausdruck “sokratische Schule” sind in der Bedeutung zu verstehen, die sie in der Forschungsgeschichte angenommen haben, und können daher zurecht in einer Sammlung gebraucht werden, die Persönlichkeiten wie Theodorus den Atheisten, Diodorus Chronos, Diogenes von Sinope und Krates von Theben einschließt, die andernfalls nur schwer als “sokratisch” anzusehen wären. Im übrigen entspricht dies dem Stand der antiken Tradition, die es nicht erlaubt, streng zwischen den eigentlichen auf die Sokratiker Bezug nehmenden Quellen und denjenigen zu unterscheiden, die sich auf die Lehrsätze der mit den Sokratikern in Verbindung stehenden Schulen beziehen, die aber nicht immer direkt den sogenannten “Gründern” zugeschrieben werden können. Was die Anordnung des Materials betrifft, sind die jeweiligen Abschnitte durch fortlaufende römische Ziffern gekennzeichnet (I. Sokratiker allgemein; II. Die megarische Schule usw.). Innerhalb jedes Abschnitts sind die einzelnen Vertreter der Schule durch Großbuchstaben (A, B usw.) gekennzeichnet. Schließlich wurden die Quellen innerhalb des die jeweiligen Vertreter betreffenden Bereichs fortlaufend durchnumeriert (vgl. G. Giannantoni, Socratis et Socraticorum Reliquiae, a.a.O., IV, S. 1-2).

Praktische Ziele und philosophische Grundlagen

Man kann vielleicht als einleitende Vorbemerkung auch auf einen tieferliegenden Grund hinweisen, der das hier vorgelegte elektronische Unternehmen angeregt hat. Den reichen Bestand der Zeugnisse über Sokrates erneut vorzulegen und, wie wir hoffen, in noch detaillierterer Gestalt in Umlauf zu bringen heißt in der Tat, sich erneut darauf einzulassen, über den philosophischen Wert dieser hervorragenden Persönlichkeit nachzudenken, die in der langen Geschichte europäischen Denkens einzigartig ist. Schon diese einfache Tatsache führt zu zwei Vorüberlegungen, die nur scheinbar von einander abweichen.

Einerseits ist es wahr, daß jede Epoche, jedes Zeitalter, jede philosophische Schule oder Bewegung es für notwendig erachtet hat, sich mit Sokrates auseinanderzusetzen und daß deren jede dahin gelangt ist, sich einen Sokrates zu schaffen, der ein Ebenbild der eigenen Absichten, der eigenen theoretischen oder existentiellen Lösungen darstellt. Andererseits enthebt uns diese Überlegung nicht einer noch tiefgehenderen Fragestellung: wie kann man das Anwachsen dieser unterschiedlichen Sokratesbilder erklären? Gibt es innere Gründe, die diese komplexe ‘Geschichte der Wirkungen’ rechtfertigen oder muß man sich damit begnügen, sie zur Kenntnis zu nehmen, gleichsam machtlos angesichts der subjektiven Entscheidungen einzelner historischer Momente oder Denker?

Wir wissen alle, daß im Falle des Sokrates, da er nichts geschrieben hat, jegliche Möglichkeit fehlt, sich auf jene Informationsquelle zu berufen, die Brickhouse und Smith als ‘Stufe A’ bezeichnet haben: hiermit meine ich die Originalquellen, die Schriften eines Autors, die sich durch eine lange und häufig schwierige Überlieferungsarbeit bis in unsere Zeit erhalten haben (vgl. T.C. Brickhouse-N.D. Smith, The Philosophy of Socrates, Boulder/New York 2000, S. 11-12). Und diese Möglichkeit ist uns völlig versagt, wir können nicht hoffen, jemals kleinste Teile seines ursprünglichen Denkens zu ergattern, sei es auch in Form eines winzigen Fragments, wie es bei vielen der sogenannten vorsokratischen Philosophen oder bei den philosophischen Schulen der hellenistischen Zeit, vor allem den Stoikern und Epikureern, der Fall ist.

Dieses anfängliche Matt darf jedoch nicht zum Verzicht, ja sogar dazu verleiten, der Figur des Sokrates Historizität abzusprechen noch dazu, Sokrates in ein reines Legendenwesen zu verwandeln (wie dies bei Gigon und noch davor bei Dupréel geschehen ist; vgl. O. Gigon, Sokrates. Sein Bild in Dichtung und Geschichte, Bern 1947, und E. Dupréel, La légende socratique et les sources de Platon, Brüssel 1922). In Wahrheit besitzen wir sehr viele Informationen ‘aus zweiter Hand’ oder sogar aus ‘dritter und vierter Hand’ über Sokrates; man kann fast sagen, daß die eigentliche Verlegenheit nicht auf die Armut, sondern den übergroßen Reichtum an Zeugnissen zurückzuführen ist. Schon Levi hat dies hervorgehoben (vgl. A. Levi, Sul pensiero di Socrate, in Studi di filosofia greca. Pubblicazione in onore di R. Mondolfo, a cura di V.E. Alfieri e M. Untersteiner, Bari 1950), und Paolo Rossi hat es klar und überzeugend bestätigt (vgl. P. Rossi, Per una storia della storiografia socratica, in Problemi di storiografia filosofica, a cura di A. Banfi, Milano 1951, S. 85).

Es ist folglich unmöglich, die Augen angesichts der flüchtigen Empfindung zu verschließen, welche uns die uns zur Verfügung stehende Datenmenge vermittelt; es ist unmöglich zu leugnen, daß Sokrates uns eher als ein vielförmiges, jeweils durch verschiedene und sogar entgegengesetzte Vorstellungen vermitteltes Symbol entgegenzukommen scheint statt als eine in ihren Umrissen bestimmte historische Gestalt oder als ein ‘Philosoph’, dessen Positionen eindeutig und unmißverständlich zu rekonstruieren sind. Was letzteres Problem betrifft, müßte man, wenn man wirklich ehrlich sein will, mit einer Feststellung Gabriele Giannantonis einverstanden sein, derzufolge die verschiedenen uns zur Verfügung stehenden Zeugnisse “uns sehr wenig über die Philosophie Sokrates’ sagen, zumindest im Vergleich zu den historisch mehr oder weniger zuverlässigen Informationen über sein Leben und zum Reichtum der Anekdotik und der Apophthegmatik“ (vgl. Socrate. Tutte le testimonianze da Aristofane e Senofonte ai Padri cristiani, a cura di G. Giannantoni, Roma-Bari 1986, S. XVIII).

Trotz dieser schwierigen Situation glaube ich nicht, daß man das Handtuch werfen noch umso weniger den Verlockungen eines unproduktiven hermeneutischen Skeptizismus nachgeben sollte. Der zu beschreitende Weg ist im Gegenteil der, den uns viele Sokratesforscher gezeigt haben, allen voran Schleiermacher und, allgemeiner, die große Tradition der deutschen klassischen Philologie: die Quellen vergleichen, sie kritisch nebeneinanderstellen und sie gegenseitig wirken lassen, um die wesentlichen Merkmale, die Elemente wechselseitiger Verschiedenheit oder auch die Beziehungen der Abhängigkeit oder der bewußten Distanz zu erfassen (vgl. F. Schleiermacher, Über den Werth des Sokrates als Philosophen, in Ders., Sämtliche Werke, III.2, Berlin 1838, S. 287ff. Diesen Weg verfolgen z. B. die Beiträge von A. Brancacci über Sokrates und die Sokratiker, versammelt in den Lezioni Socratiche, a cura di G. Giannantoni e M. Narcy, Napoli 1999: vgl. jeweils S. 121-151; 153-177; 279-301; 303-327).

Und der wichtigste Schritt auf diesem Weg konnte nur der einer systematischen und erschöpfenden Sammlung aller die Gestalt des Sokrates betreffenden Zeugnisse sein. Kurz und gut, der gewagteste und gleichzeitig nützlichste, hermeneutisch produktivste Schritt konnte nur der von Gabriele Giannantoni sein, der seit dem Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere ständig um die Sammlung und Interpretation aller Informationen bemüht war, die nicht nur Sokrates betreffen, sondern auch die verschiedenen von diesem gezeugten, fruchtbringenden ‘Samen’. Und es ist auf dieser Spur der reiferen Forschungstätigkeit Giannantonis, auf der das eingangs kurz geschilderte ‘elektronische Projekt’ sich in der ausdrücklichen Hoffnung anzusiedeln beabsichtigt, das wissenschaftliche Erbe der langen von ihm auf dem schwierigen Feld der Zeugnisse über Sokrates geleisteten Arbeit wenn möglich noch wirksamer zu gestalten.

(Emidio Spinelli, Cyber-Socratica: new approaches and research in ancient philosophy, "Linguistica computazionale", XX-XXI (2004) S. 474-477)

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